„ALS KIND WOLLTE ICH ENTWEDER BOTANIKERIN ODER KOMPONISTIN WERDEN.“ – GABRIELE PROY IM MICA-INTERVIEW

GABRIELE PROY ist heuer Composer in Residence des Wien – International Soloists Ensemble (WISE) und als international tätige Komponistin zeitgenössischer Musik werden ihre Werke weltweit in Konzerthäusern wie dem Halton Theatre Charlotte, dem Deakin Edge Theatre Melbourne, dem Konzerthaus Berlin, der Wigmore Hall London, dem Musikverein Wien, dem Esplanade Theatres on the Bay Singapore oder der Kyoto Concert Hall aufgeführt. 2013 wurde GABRIELE PROY mit dem Preis der Stadt Wien für Musik und 2022 mit dem NÖ Kulturpreis für Musik ausgezeichnet. Mit Michael Franz Woels sprach sie über ihre intensive Beschäftigung mit Bertha von Suttner, über die Notwendigkeit einer zeitlichen Distanz zu eigenen Werken und ihr ursprüngliches Interesse an interdisziplinärer Medienkunst.

Als international tätige Komponistin hatten Sie schon unzählige Aufträge. Greifen wir ein Projekt heraus, und zwar das Chorwerk „Frieden“, das 2013 im Auftrag der Stadt Leipzig für das „Europäische Friedenskonzert“ entstanden ist und das 2020 auf der CD „Friedens·Hall“ des Denkmalchor Leipzig, Chor des Völkerschlachtdenkmals, erschienen ist.

Gabriele Proy: Die CD wurde „Friedens·Hall“ genannt, weil das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig auch als Friedenshalle, als Raum für den Frieden, als Zeichen für den Frieden gesehen wird. Der Auftrag lautete, eine Komposition für das Europäische Friedenskonzert „Leipzig 1813-1913-2013“ zu schreiben, in Erinnerung an die dramatische Völkerschlacht. Eingeladen wurden fünf Komponisten und eine Komponistin aus den Ländern, die damals an der Seite Napoleons beziehungsweise gegen Napoleon gekämpft haben – aus Österreich, Schweden, Deutschland, Frankreich, Polen und Russland. Als österreichische Komponistin wurde ich von der Stadt Leipzig für dieses Europäische Friedenskonzert ausgewählt und habe in dem beauftragten Chorwerk „Frieden“ Zitate aus „Die Waffen nieder“ von Bertha von Suttner [aus dem Jahr 1889, Anm.] vertont:

„Die Waffen nieder! Welches freie Aufatmen dieses Wort Waffenstillstand doch gewährt! … wie müsste die Welt erst aufatmen – dachte ich zum erstmal – wenn es allenthalben hieße: die Waffen nieder! Es fing bei mir an, eine fixe Idee zu werden: Die Kriege müssen aufhören. Und jeder Mensch muss beitragen, was er nur immer kann, auf dass die Menschheit diesem Ziele – sei’s auch nur eine Tausendstel Linie – näher rücke. Die Waffen nieder!“

Schon Jahre davor hatte ich für den Dokumentarfilm „Aufbruch der Frauen. Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung“ des deutschen Filmemachers Walter Wehmeyer die Filmmusik geschrieben und mich mit dem Lebenswerk von Bertha von Suttner, die im Film porträtiert wird, auseinandergesetzt. Als Filmmusik konnte ich ein neues Flötenquartett schreiben, und da die Studioaufnahmen mit dem Ensemble die reihe schon vor dem finalen Filmschnitt fertig waren, meinte der Filmemacher zu mir: „Ich werde den Film nach deiner Musik schneiden.“ Dass Walter Wehmeyer den Dokumentarfilm im Rhythmus meiner Musik geschnitten hat, zeugt von unserer besonderen Zusammenarbeit und gegenseitigen Wertschätzung. Mein Flötenquartett „Alchemilla vulgaris“ wird seither sehr häufig in Konzerten aufgeführt – auch heuer wieder, und zwar mit dem WISE-Ensemble im Rahmen meiner Residency am 16. Juni 2023 im Alten Rathaus in Wien.

Für das Europäische Friedenskonzert wurden wir sechs Komponist:innen schon im Vorfeld vom Denkmalchor Leipzig und der Stadt Leipzig eingeladen, um die außergewöhnliche Akustik ‒ ähnlich der Akustik in einer großen Kathedrale ‒ des Völkerschlachtdenkmals kennenzulernen. Im Kompositionsvertrag standen aufgrund der speziellen Situation des Nachhalls Vorgaben wie zum Beispiel, dass wir keine polyrhythmischen Strukturen komponieren sollen. Es gab auch genaue Angaben zum Stimmumfang, da der Denkmalchor neben Profi-Sänger:innen auch aus Laien besteht. Ich empfand das aber nicht als einschränkend und habe viele Möglichkeiten gefunden, meine Inhalte und musikalischen Ideen umsetzen zu können.

„Frieden“ wurde am 20. Oktober 2013 mit dem Denkmalchor Leipzig unter Ingo Martin Stadtmüller in Leipzig uraufgeführt. 2022 erklang „Frieden“ mit dem Chor „La Sperenza“ unter der Leitung von Sabine Federspieler zweimal in Österreich – beim Friedenskonzert in der Reformierten Stadtkirche in Wien und bei der Bertha von Suttner Friedens-Akademie in Gars am Kamp.

Voll ausreizen konnte ich wiederum den menschlichen Stimmumfang bei meinem Chorwerk „Kokoro“ für den Philharmonischen Chor München ‒ im Sopran bis b2. Der Auftrag lautete, ein Chorwerk für Frauenchor zum Thema „Herz“ zu schreiben. Ich habe dazu zwei Textstellen aus dem japanischen Roman „Kokoro“ ‒ das japanische Wort bedeutet Herz ‒ von Sôseki Natsume ausgewählt. Bei der Uraufführung meines Chorwerks mit dem Philharmonischen Chor München in der Münchner Residenz unter der Leitung von Andreas Herrmann erklangen fünfzig Frauenstimmen!

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Wenn man vor allem Auftragswerke komponiert, kommen einem auch Aufträge unter, mit denen man sich sehr schwertut?

Gabriele Proy: Bisher haben mich erst einmal die Vorgaben gestört. Das war vor vielen Jahren ein außergewöhnlicher Auftrag der IGNM für Mikroton-Orgel. Ich habe lange gehadert, ob ich den Auftrag annehmen soll. Eine Mikroton-Skala zu erfinden, war nicht meine Klangsprache. Ich hatte Glück: denn zur Uraufführung meines Klaviertrios „Violett“ im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Istanbul wurde ich in Kappadokien vom Gesang des Muezzins geweckt. Das hat mich veranlasst, mich näher mit der musikalischen Tradition im arabischen und türkischen Raum zu beschäftigen, wo Mikrotöne eine Selbstverständlichkeit sind. Nach meiner Rückkehr aus der Türkei habe ich den IGNM-Auftrag angenommen und „Uçhisar“ für Violoncello und Mikroton-Orgel geschrieben.

„Uçhisar“ habe ich einige Jahre später im Auftrag von Wien Modern in unser Tonsystem transferiert und eine neue Fassung für Violine und Klavier komponiert. Die Uraufführung fand in der Alten Schmiede in Wien statt. In Wien gibt es eine Mikroton-Orgel im Prayner-Konservatorium. Interessant war, dass die türkische Skala, auf die ich mich bezogen hatte, nicht eins zu eins auf dieser Mikroton-Orgel umsetzbar war. Ich musste bei der Probe entscheiden, wieviel Cent die einzelnen Mikrotonschritte von meiner ursprünglichen Klangidee abweichen sollten. Für mich klangen die adaptierten Mikrotöne eigenartig, denn ich habe eine klare Klangvorstellung und nach Fertigstellung einer neuen Komposition klingt jede Abänderung für mich falsch. Ich muss erst eine Distanz zu einem neuen Werk entwickeln, damit ich es wieder „neu“ hören kann.

„ABER MIR IST SEHR WOHL BEWUSST, DASS ES IMMER DAVON ABHÄNGT, IN WELCHEM LAND, IN WELCHEM SOZIALEN UND KULTURELLEN UMFELD, IN WELCHEM KULTURKREIS UND ZU WELCHER ZEIT WIR ALS KÜNSTLER:INNEN LEBEN UND SCHAFFEN KÖNNEN.“

Eine weitere Uraufführung, die mir zu diesem Thema einfällt, war der Auftrag zu „100 Jahre Evangelische Kirchenmusikabteilung“ an der mdw, wo ich die Liedkomposition „Silber – 3 Gesänge nach Zen-Kôan“ für Bariton und Orgel geschrieben habe. Bei den Liedern habe ich mich auf Naturbetrachtung bezogen, weil ich diese als eine Verbindung mit anderen Religionen und Kulturen empfinde – Naturbetrachtung als eine mögliche Erfahrung von Transzendenz.

Im Vorfeld zur Uraufführung hat mich der Opernsänger Günter Haumer angerufen und gemeint: „Wäre es vielleicht besser, meine Stimme um einen Ganzton oder eineinhalb Ganztöne zu transponieren, dann wäre meine Stimme lyrischer. Technisch ist das Stück für mich kein Problem, aber ich glaube, du möchtest eine lyrischere Klangfarbe …“ Die Reinschrift der transponierten Partitur gestaltete sich sehr aufwendig. Damals habe ich noch alle Partituren mit der Hand geschrieben und an einer Partiturseite in A3-Größe durchschnittlich einen Tag gearbeitet. Bis zur Uraufführung habe ich Tag und Nacht geschrieben, meine innere Klangvorstellung konnte ich aber so kurzfristig nicht anpassen. Bei der Uraufführung mit dem Bariton Günter Haumer und dem Organisten Matthias Krampe in der Evangelischen Christuskirche in Wien klangen alle drei Lieder für mich fremd. Erst einige Monate später, als ich mir den Mitschnitt angehört habe, war ich zufrieden.

Inzwischen habe ich weitere Fassungen von „Silber“ für Sopran, Flöte und Harfe sowie für Sopran und Klavier geschrieben, die in Österreich, Ungarn und Kroatien aufgeführt wurden, unter anderem 2019 mit der Sopranistin Annette Fischer, der Flötistin Regina Schmallegger und der Harfenistin Zsuzsanna Aba-Nagy oder 2022 mit der Mezzo-Sopranistin Josipa Bainac und dem Pianisten David Hausknecht.

Thema und melodische Linienführung meiner Komposition „Uchisar“ begleiten mich nun schon seit vielen Jahren und 2022 habe ich das Thema nochmals in meinem neuen Bratschenkonzert aufgegriffen. Das Bratschenkonzert „Vareš Conerto“ ist im Auftrag des Vareš Classic Festivals entstanden und wurde am 1. Oktober 2022 mit der Solistin Andrea Nikolić und der Sarajevo Philharmonie uraufgeführt ‒ Mladen Tarbuk hat dirigiert. Sehr gerne wäre ich bei der Uraufführung vor Ort gewesen, aber am nächsten Tag fand ja bereits das Jubiläumsorchesterkonzert zu „100 Jahre IGNM“ am Mozarteum in Salzburg statt, wo ich als zeitgenössische Komponistin ausgewählt wurde und Wolfgang Danzmayr mit dem Orchesterprojekt meine beiden Orchesterwerke „MA“ und „Forelle“ aufgeführt hat.

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Mein Bratschenkonzert „Vareš Concerto“ wird noch heuer im Rahmen meiner Residency mit der Solistin Andrea Nikolić und dem WISE-Ensemble beim Eröffnungskonzert des CRO-ArT-Festivals 2023 in der Peterskirche erstaufgeführt, und da werde ich dann live dabei sein können.

Rückblickend war 2022 für mich als Komponistin – trotz der dramatischen Zuspitzung der weltpolitischen Lage – ein besonderes Jahr mit sehr vielen Aufführungen meiner Kompositionen weltweit. Im Oktober wurden innerhalb von vierzehn Tagen gleich vier Orchesterwerke von mir aufgeführt, darunter die zwei Uraufführungen beim Vareš Classic Festival und im Musikverein Wien. Aber mir ist sehr wohl bewusst, dass es immer davon abhängt, in welchem Land, in welchem sozialen und kulturellen Umfeld, in welchem Kulturkreis und zu welcher Zeit wir als Künstler:innen leben und schaffen können.

„DAS KONTEMPLATIVE VERTIEFEN IN DIE WEITE EINER LANDSCHAFT IST EIN WICHTIGER ASPEKT MEINER KLANGSPRACHE.“

In ihren Kompositionen, die Sie ja einmal sehr schön als ein „Zeitanhalten-Wollen“ bezeichnet haben, geht es Ihnen ja auch um das Unterstützen von kontemplativen Erfahrungen. Kommt dieser Wunsch auch aus der Beschäftigung mit anderen Kulturen, vielleicht vor allem mit der asiatischen und japanischen mit ihren kulturellen Besonderheiten?

Gabriele Proy: Für mich war die Beschäftigung mit Natur immer wichtig. Als Kind wollte ich entweder Botanikerin oder Komponistin werden. Ich bin immer sehr, sehr langsam nach Hause gegangen, weil ich auf dem Schulweg alle Blüten und Pflanzen bewundert habe. Meiner Biologie-Professorin habe ich oft vor oder nach dem Unterricht die gepressten Blumen in meinem Herbarium gezeigt ‒ sie hat mir beim Bestimmen der einzelnen Pflanzen geholfen. Später, in der Oberstufe, wollte uns unser Professor zeigen, wie das Biologie-Studium abläuft und hat mit uns eine Exkursion an die Universität gemacht. Dort habe ich erfahren, dass ich im ersten Studienjahr vor allem mikroskopieren und Amöbentierchen abzeichnen müsste. Ich wollte aber hinaus in die Natur und so ist mir die Entscheidung leichtgefallen, mich doch lieber der Musik zu widmen. Meine Kompositionsideen entstehen vor allem bei Wanderungen und Spaziergängen in der Natur, sei es in den Hohen und Niederen Tauern, im Föhrenwald bei Sooss oder auch in japanischen Gärten in Hirosaki, Kyoto oder Tokyo.

Mit meinem Zugang zur Natur habe ich als Komponistin in Japan große Resonanz gefunden.
Das kontemplative Vertiefen in die Weite einer Landschaft ist ein wichtiger Aspekt meiner Klangsprache. Zur Uraufführung meiner Soundscape-Komposition „Waldviertel“, dem Österreich-Auftrag zum EU-Japan-Jahr-2005, habe ich extra Japanisch gelernt, und seither viele Vorträge und Seminare an japanischen Universitäten gehalten. Die Auseinandersetzung mit der japanischen Kultur spiegelt sich in vielen meiner Werke wider: wie zum Beispiel im erwähnten Chorwerk „Kokoro“ oder in den beiden Solowerken „Kigen“ und „Hiroshima“ oder auch in meinen Orchesterwerken „MA“ und „Momiji“.

In der Komposition „Kigen“ ‒ der japanische Titel bedeutet „Ursprung“ ‒ geht es mir um Ursprünge westlicher und asiatischer Klangkonzepte, um ein Gestalten mit kirchentonalen und traditionellen japanischen Modi. „Kigen“ entstand 2008 im Auftrag des Wiener Nobelpreisträgerseminars und wurde zu dessen Eröffnung von der Pianistin Manon-Liu Winter uraufgeführt. Bei meiner Japan-Konzertreise im Herbst 2023 wird die japanische Pianistin Miyuki Kusuhara-Schuessler „Kigen“ in der Enkei Hall aufführen.

In „MA“ nehme ich Bezug zum japanischen Konzept des „Zwischenraums“. Das Orchesterwerk konnte ich als Composer in Residence des Wiener Concert-Vereins realisieren, es wurde vom Wiener Concert-Verein im Musikverein Wien uraufgeführt und ist der ersten österreichischen Nationalratspräsidentin Barbara Prammer in Memoriam gewidmet. Mit dem European Union Youth Orchestra wurde „MA“ zur Eröffnung der Österreichischen EU-Ratspräsidentschaft in der Wigmore Hall London aufgeführt, es dirigierte Jakub Przybycien.

Das Klavierquartett „Sasakia charonda“ entstand als Jubiläumsauftrag zu 150 Jahre diplomatische Beziehungen Österreich-Japan-1869­–2019 und wurde von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker in Japan uraufgeführt. Hier verwebe ich das japanische Lied „Furusato“ mit meiner Klangsprache, entwickle Linien und Klangpattern bis alles in einen filigranen Schwebezustand mündet, eine Klangwelt, die von den Musiker:innen höchste Professionalität und Exaktheit abverlangt, damit dieses komponierte musikalische Schweben entstehen kann. Es ist genau diese Meta-Ebene, die mich als Komponistin interessiert, dieses intensive Hineinhören, dieses kontemplative Eintauchen in die Weite einer Landschaft.

Auch in meinem Orchesterwerk „Momji“, das als Auftrag zum Beethoven-Jahr-2020 entstanden ist, erklingen meditative Klangwelten. „Momji“ erzählt von der Farbenpracht der Blätter im Herbst, insbesondere von den Rottönen des japanischen Ahorns, aber auch von der Zeit des Abschiednehmens und Erinnerns: der Herbst als Zeichen des Innehaltens, als Symbol für die Flüchtigkeit des Lebens. Die Uraufführung im Herbst 2020 musste wegen der pandemiebedingten Lock-Downs abgesagt werden. Schließlich wurde mein Orchesterwerk „Momji“ im Herbst 2022 mit dem Wiener Concert-Verein im Musikverein Wien uraufgeführt, es dirgierte Tarmo Peltokoski.

Aktuell möchte ich noch über das Solowerk „Hiroshima“ sprechen, das sich auf die Spielweise der japanischen Bambusflöte Shinobue bezieht. In „Hiroshima“ entwickelt sich die Dramatik aus einem minimalistischen Klangraum, der bis zum Stillstand führt. Das erfordert ein äußerst konzentriertes, höchstprofessionelles Spiel. Das dramatische Oboen-Solo habe ich zu Beginn des Ukraine-Krieges geschrieben. Die Oboistin Ivana Nikolić hat mein Solowerk fix in ihr Repertoire aufgenommen: nach dem Eröffnungskonzert des CROArT Festivals 2022 in der Peterskirche hat sie „Hiroshima“ heuer am 23. März 2023 beim Konzert „Magische Oboe“ im Alten Rathaus in Wien aufgeführt.

Wie gelingt es Ihnen, in einen Zustand zu gelangen, in dem Sie Musik zum „Zeitanhalten-Wollen“ komponieren können?

Gabriele Proy: Ich muss abschalten, um mich voll und ganz auf das Komponieren konzentrieren zu können. Die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, Krankheits- und Todesfälle im nahen Familien- und Freundeskreis haben auch in meinem Alltag Spuren hinterlassen. Über all die vielen Jahre habe ich als Komponistin eine Professionalität entwickelt, die es mir ermöglicht, Ruhe zum Komponieren zu finden und zu bewahren. Es gibt in der japanischen Kultur zum Beispiel die Teezeremonie, auch hier geht es darum, sich voll und ganz darauf zu konzentrieren und den Alltag abzulegen. Kreatives Schaffen sehe ich als eine Art „Zwischenraum“ mit klaren Konzepten, die ich umsetze und einer Offenheit für „Schlüsselmomente“.

„ICH GLAUBE, DASS DAS VON MEINEM ZUGANG ALS GITARRISTIN KOMMT: ES GEHT MIR UM EIN INTENSIVES IN-DEN-KLANG-HINEINHÖREN, UM EIN ENTWICKELN UND GESTALTEN VON MINIMALEN KLANGNUANCEN.“

Ist Klangkunst für Sie als Komponistin noch immer ein Bereich, in dem Sie Aufträge annehmen?

Gabriele Proy: Es gäbe immer wieder Aufträge, aber ich konzentriere mich als Komponistin vor allem auf das Schreiben von Orchesterwerken und Kammermusik. Die Themen Soundscapes und Sensibilisierung des Hören interessieren mich jedoch nach wie vor, so bin ich heuer im Komitee des internationalen Symposiums „SOUNDSTAINABILITY – making future from listening“ des europäischen Forum Klanglandschaft, wo ich von 2001 bis 2013 die Präsidentin war, aber Klangkunst ist nicht mehr mein künstlerischer Fokus.

Es gibt jedoch besondere Klangthemen, die mich in meinen Kompositionen immer wieder beschäftigen und die immer wiederkehren. Ich glaube, dass das von meinem Zugang als Gitarristin kommt: Es geht mir um ein intensives In-den-Klang-Hineinhören, um ein Entwickeln und Gestalten von minimalen Klangnuancen. In meinen Kompositionen arbeite ich viel mit wiederkehrenden Patterns, mit rhythmischen Verschiebungen, mit dem Wechselspiel von geraden und ungeraden Taktarten, mit subtil veränderten Klangmotiven, die sich immer wieder neu aufbauen. Das geht bis in den Bereich der Minimal Music – so komponiere ich schwebende Klanglandschaften.

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Auch in meinem neuen Werk „Rosarium“ für Akkordeon solo, das ich heuer für die Stadt Baden geschrieben habe, geht es mir um schwebende Klanglandschaften, um ein Eintauchen in den Klangfarbenreichtum des Akkordeons. So schaffe ich Anknüpfungspunkte, so kann ich eine wiedererkennbare Klangsprache entwickeln. „Rosarium“ erfordert einen höchstprofessionellen musikalischen Vortrag, um all die subtilen Nuancen und Register zum Klingen zu bringen: Der Akkordeonist Nikola Djorić hat „Rosarium“ am 15. Februar 2023 im Haus der Kunst in Baden uraufgeführt.

Gehen wir biografisch noch einmal an den Start zurück. Wie war dann Ihre Anfangszeit als Kompositionsstudentin genau?

Ich wollte einfach komponieren. Heute denke ich mir, wie naiv ich damals war. Bei der Aufnahmeprüfung wurde ich gefragt, ob ich schon komponiert habe, und ich habe geantwortet: „Ja, laufend. Erst heute habe ich wieder eine Melodie erfunden.“ Das Notenblatt mit der neuen musikalischen Idee habe ich dabei völlig unbekümmert aus meiner Jackentasche hervorgekramt. Von 110 Anwärter:innen wurden dann nur 10 neue Kompositionsstudent:innen aufgenommen, und ich war überglücklich, endlich Komposition studieren zu dürfen.

Mich hat vermehrt die Interdisziplinarität verschiedener Kunstrichtungen interessiert, vor allem Medienkunst und bildende Kunst, und ich war viel bei Vernissagen und habe Kontakte zur Universität für Angewandte Kunst geknüpft. So kam ich zur Performance-Kunst und habe einen eigenen Kompositionszyklus mit dem Titel „Sinnes- und Aktionsgeschehen“ entwickelt. 1989 wurde ich eingeladen, in der damaligen Galerie der Alten Schmiede die Einzelausstellung „Jokastes Kinder“ mit meinen Kunst-Objekten und Objekt-Partituren zu präsentieren. Die Ausstellung wurde von Valie Export eröffnet und war im Grunde die erste größere Veröffentlichung meiner künstlerischen Arbeit.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

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Termine:

Freitag, 9. Juni 2023
„Kigen“, „Opal“ und „Rosarium“ mit Miyuki Schüssler (Klavier)
Haus der Kunst in Baden

Mittwoch, 28. Juni 2023
„Alchemilla vulgaris“ mit dem WISE Ensemble
Altes Rathaus Wien

Donnerstag, 3. August 2023
Neues Werk für Flöte solo mit Ulrike Anton (Flöte)
Schloss Goldegg

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Links:
Dokumentarfilm “Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung”.
Walter Wehmeyer: Regie
Gabriele Proy: Musik
ORF/3sat/Walter Wehmeyer Filmproduktion/Petrus van der Let Filmproduktion.

Gabriele Proy
Gabriele Proy: „Hommage an Ernst Krenek“
Ö1: Ohrmensch Gabriele Proy
Baden in Kultur: Im Porträt: Gabriele Proy
Crossays in Contemporary Music: Nature II
Porträt: Gabriele Proy
Gabriele Proy im Porträt